Freitag, 19. September 2014

Alexei Puschkow: "Die Masken sind abgelegt, der Anstand ebenso"

Mittwoch, 17. September 2014
Quelle: Der Unbequeme


Um zu verstehen, wie repräsentative Russen (also nicht die, die im ARD-Presseclub als Feigenblatt präsentiert werden) die aktuelle Beziehungskrise zum Westen sehen, wird hier die Übersetzung eines denkwürdigen Artikels von Alexei Puschkow veröffentlicht. Er ist ein international bekannter Außenpolitiker und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma. Zudem leitet und moderiert er das populäre wöchentliche Politmagazin "Postscriptum" im russischen Fernsehen.

 

Die Masken sind abgelegt, der Anstand ebenso. Und auch der gesunde Menschenverstand. Die NATO droht mit der Einrichtung von Militärbasen in unserer direkten Nachbarschaft. Die EU führt immer neue Sanktionen ein, persönliche und wirtschaftliche, und ergänzt die Liste mit immer neuen Namen. Der Westen konsolidiert sich auf der Basis einer neuen Feindseligkeit gegenüber Russland und auch die gegenteiligen Bemühungen einzelner Länder und Politiker können diese Tendenz nicht umkehren.

Es geht nicht mehr um die Verteidigung hoher Ideale, um die Rechte der Leidenden, um die Hoheit des Gesetzes. Unter dem mächtigen Druck der Vereinigten Staaten sind alle diese Prinzipien beiseite geschoben. Der Staatsstreich in der Ukraine vom 22. Februar wurde im Westen sofort und mit Begeisterung akzeptiert. Ganz gleich, dass dabei grob die ukrainische Verfassung verletzt und das Verfassungsgericht auseinandergetrieben wurde und dass die Oberste Rada illegale Entscheidungen traf. All das ist unwichtig, wenn es darum geht, sich ein Land wie die Ukraine geopolitisch unter den Nagel zu reißen.

Genau deshalb ist den derzeitigen Machthabern in Kiew all das erlaubt, wovon sich in anderen Fällen den westlichen Politikern offiziell die Nackenhaare sträuben: Mord an der Zivilbevölkerung, Einsatz von Phosphorbomben und ballistischen Raketen gegen Einwohner der Städte, Erschießungen und Entführung von Journalisten und nicht zuletzt Erstickung und Verbrennung von Menschen nur dafür, dass sie für sich mehr Rechte einforderten. So gesehen in Odessa.

Alle diese Verbrechen wurden durch den demokratischen Westen faktisch erlaubt und abgesegnet, bei gleichzeitigem verschämten Murmeln über die Notwendigkeit von Untersuchungen, die entweder nie stattfinden oder von Kiew gezielt in eine Sackgasse geführt werden. Erlaubt und abgesegnet für ein höheres Ziel: die Eingliederung der Ukraine in die euroatlantische Einflusszone.

Für all das, was in der Ukraine passiert, wird ausschließlich Russland die Schuld gegeben. Während Sanktionen für all die denkbaren und undenkbaren Verstöße gegen die Menschenrechte, allen voran das Recht auf Leben, eigentlich gegen Kiew gerichtet sein müssten, werden Russland und persönlich Putin als die neuen Ausgeburten der Hölle dargestellt. Und je höher die eigene Schuld des Westens für das Geschehen ist, desto verbissener wird unser Land von der westlichen Presse attackiert, die bereits vergessen hat, was Objektivität und elementare Ausgewogenheit sind.

So sieht heute die allgemeine Tonlage aus. Dabei räumen alle denkenden Menschen von Finnland bis USA ein: daran, dass die Ereignisse in der Ukraine die heutige Entwicklung genommen haben, ist nicht so sehr Russland schuld (das lange Zeit gar nicht auf das Geschehen dort reagierte), sondern der Westen selbst. 


Die EU war es, die die Ukraine vor die Wahl stellte: entweder die Zusammenarbeit mit Russland oder die Assoziierung mit der Europäischen Union. Die EU hat den Staatsstreich sofort unterstützt, während die USA ihn gar vorbereiteten. Why the Ukraine Crisis Is the West's Fault lautet der Name des Artikels, den vor kurzem der Professor der Chicagoer Universität John J. Mearsheimer in der US-Zeitschrift "Foreign Affairs" veröffentlichte.

Er schreibt: "Wenn man von den vorherrschenden Ansichten im Westen ausgeht, liegt die Schuld an der Ukraine-Krise fast gänzlich bei Russland. Dem ist jedoch nicht so. In Wirklichkeit tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten den größten Teil der Verantwortung für die Krise. 


Der Westen hatte schon seit langen versucht, die Ukraine in den Orbit der NATO zu bringen und von Russland loszureißen. Dabei hat Moskau wiederholt klargemacht, dass es nicht einfach stillhalten werde, während sich sein strategisch wichtiger Partner in ein Bollwerk des Westens verwandelt. Für Putin wurde der unrechtmäßige Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, den er zurecht Staatsstreich nennt, zum letzten Tropfen."

Ähnlich bewertet der ehemalige US-Botschafter in der UdSSR Jack Matlock die Lage. Im Interview für die deutsche TAZ erzählt er, wie die NATO mit ihrer Expansionsstrategie in Osteuropa die Basis für die Krise in den Beziehungen mit Russland legte. "Keines dieser Länder war von Russland bedroht. Und dann begann die Eröffnung von Militärbasen, unter anderem in Polen – gegen nicht existierende Raketen aus Iran – Für die Russen war das eine Provokation."

Danach hat die NATO laut Matlock auch noch die Ukraine locken wollen, indem ihr die Mitgliedschaft in der Allianz versprochen wurde. "Das alles waren sehr dumme Schachzüge des Westens. Heute haben wir die Reaktion darauf." Seiner Meinung nach würden es die USA genauso wenig tolerieren, wenn China auf eine Militärallianz mit Kanada und Mexiko hinarbeiten würde. "Wir würden das verhindern. Mit jedem Mittel, das wir haben. Jedes Land, das die Macht dazu hat, würde das tun."

Doch all das wird man wird man in Washington und Brüssel niemals zugeben. Weil man in diesem Fall anerkennen müsste, dass die ganze antirussische Politik Obamas überhaupt keine Grundlage hat, außer dem Streben nach der Abrechnung mit dem unbotmäßigen Moskau, das es wagt, die USA herauszufordern und eine unabhängige Außenpolitik zu verfolgen.

Weil man dann zudem anerkennen müsste, dass dass sich die Quelle der Aggression nicht im Kreml, sondern in Washington und den verbündeten europäischen Hauptstädten befindet. Und das wichtigste: man müsste dann anerkennen, dass sich alles nicht um Demokratie, Menschenrechte und hohe Prinzipien dreht, mit denen man uns 20 Jahre lange fütterte, sondern um das Streben nach Herrschaft um jeden Preis. Um das, was der Europäer Nietzsche als Willen zur Macht bezeichnete. Nietzsche wusste, wovon er sprach. Die Masken sind abgelegt. Der Anstand ebenso.

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